Rede von Herrn Prof. Dr. Frank Hellwig am 3.10.2020 in Kahla, zum 30. Jahrestag der deutschen Einheit:

Sehr geehrte Damen und Herren,
heute, am 3.Oktober 2020, feiern wir 30 Jahre deutsche Einheit. Es ist schön, dass wir uns dazu mit Bürgerinnen und Bürgern unserer Partnerstadt Schorndorf treffen können. Diese Partnerschaft ist mit unserer gemeinsamen Geschichte vor und nach der Wiedervereinigung Deutschlands eng verbunden.
Gerne denke ich zurück an das Jahr 2011, als hier Oberbürgermeister Matthias Klopfer und Bürgermeister Bernd Leube die Partnerschaftseiche gepflanzt haben. Die Eiche hatten wir gewählt, weil sie in Geschichten und Sagen immer ein besonderer Baum gewesen ist. Sie steht sinnbildlich für Festigkeit und Dauerhaftigkeit. Auch in der Vergangenheit sind zu besonderen Anlässen Eichen gepflanzt worden, zum Beispiel Luthereichen zur Erinnerung an dessen Standhaftigkeit im Glauben.

Heute wollen wir gemeinsam 30 Jahre deutsche Einheit feiern.
Während für die meisten Menschen im Westen unseres Lande das Leben in mehr oder weniger geordneten Bahnen weiterging, nachdem im November 1989 die Mauer gefallen war, vollzogen sich in dem knappen Jahr bis zum 3.10.1990 im Osten Deutschlands tiefgreifende Veränderungen, die das Leben jedes Einzelnen betrafen.
Lassen Sie mich kurz einige Meilensteine auf dem Weg zur Wiedervereinigung in Erinnerung rufen:
Am 17.11.1989 wurde Hans Modrow, der nicht zur alten Machtelite gehörte, von den Abgeordneten der Volkskammer zum Ministerpräsidenten der DDR gewählt.
Am 28.11. 1989 legte Bundeskanzler Helmut Kohl seinen 10-Punkte-Plan zur Zukunft der beiden Teile Deutschlands vor. Er verband das Schicksal Deutschlands mit der Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft und enthielt das Angebot einer Konföderation. Dieser Plan stieß in der DDR auf ein sehr unterschiedliches Echo; viele Menschen fühlten sich von der Entwicklung überrollt.
In der DDR fand am 7.12.1989 die erste Sitzung des Runden Tisches in Berlin statt.
Die Silvesterfeiern in Ost und West waren in dem Jahr besonders ausgelassen, Ausdruck von Freude und neuer Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft Deutschlands.
Das neue Jahr brachte am 18.3. freie Wahlen zur Volkskammer, die am 12.4.1990 Lothar de Maizière zum Ministerpräsidenten der DDR wählte. Ich erinnere mich noch gut an einen Auftritt dieses Mannes vor der Wahl in Göttingen. Wir erlebten einen Politiker, der sich durch Nachdenklichkeit und Bescheidenheit deutlich von vielen Politkern im Westen abhob.
Anfang Mai, am 6.5. gab es freie Kommunalwahlen. Wohl das einschneidendste Ereignis des Jahres bis zur Wiedervereinigung war die Wirtschafts- Währungs- und Sozialunion zwischen der alten Bundesrepublik und der DDR, die am 1. Juli Wirklichkeit wurde. Am 22.7. entstehen die neuen Bundesländer. Nachdem zwischen Mai und September im Rahmen des 2+4 Formates intensive Verhandlungen über die deutsche Einheit stattgefunden hatten, konnte der Einigungsvertrag am 31.8.19090 von den Ministern Schäuble und Krause unterzeichnet werden.
Dieser Vertrag wurde am 30.9. durch die Parlamente beider deutscher Staaten mit 2/3-Mehrheit gebilligt und trat am 29.9.1990 in Kraft.
Wir alle erinnern uns wohl noch an die eindrucksvollen Bilder der offiziellen Zeremonie zur Wiedervereinigung am Brandenburger Tor heute vor dreißig Jahren.
Diese wenigen Daten, meine Damen und Herren, lassen nicht einmal im Ansatz ahnen, wie schnell und radikal sich das Leben in der DDR und dann in den neuen Ländern veränderte. Da ich das nicht selbst erlebt habe, fühle ich mich nicht berufen, dies im Einzelnen zu schildern. So kann ich nur meinen großen Respekt vor der Aufbauleistung der Menschen im östlichen Deutschland und auch hier in Kahla ausdrücken, die den Wechsel des politischen und wirtschaftlichen Systems gemeistert haben.
Das Ausmaß der Krise der Jahre um die Wiedervereinigung ist schon daran zu erkennen, dass eine große Zahl vor allem junger Menschen in den Westen abwanderten. Mitte 1990 lebten auf dem Gebiet der DDR so wenige Menschen wie seit dem Ende des Krieges nicht.
Dennoch: Dank des ausgeprägten Durchhaltewillens und harter Arbeit der Menschen hier und im ganzen Land leben wir heute in einem vereinigten, freien und wohlhabenden Deutschland. In einem Deutschland mit vielen Problemen freilich. Auch heute stehen wir vor neuen Herausforderungen wie der Corona-Pandemie, der Klimakrise oder der globalen Migration. Diese Schlagworte zeigen eines ganz deutlich: Die Herausforderungen unserer Zeit werden wir auch mit einem geeinten Deutschland allein nicht lösen können; die Staaten der Erde sind zur Zusammenarbeit gezwungen.
Ich wiederhole es noch einmal: Wir leben heute, und das ist wirklich ein Grund zum Feiern, in einem freien Land mit großer Wirtschaftsleistung und einem fein ausgearbeiteten System sozialer Sicherung.
Aber ist dies alles von Dauer? Diese Sorge treibt in diesen Tagen viele Menschen um, auch hier in Thüringen, auch hier in Kahla. Wir sehen im Russland Putins, in der der Türkei Erdogans und vor allem in China, wie andere politische Systeme an Macht und Einfluss gewinnen. Ich glaube, dass es für unsere Zukunft entscheidend ist, ob die Demokratien unserer Prägung die Probleme der Welt lösen können oder ob sie im Wettstreit der Systeme schließlich unterliegen.
Die Kraft unserer Demokratie, die für die fünf neuen Länder vor 30 Jahren erkämpft wurde, liegt im Willen des Volkes. Es liegt an uns zu entscheiden, wie wir leben wollen.
Und so ist die kleine Feier, zu der wir uns heute hier versammelt haben, auch ein Aufruf zur Wachsamkeit und zur aktiven Teilnahme am politischen und gesellschaftlichen Leben. Dass sich unsere Gesellschaft verändert, ja verändern muss, ist unvermeidlich. Aber jeder Einzelne hat die Möglichkeit, diesen Wandel mitzugestalten - und das ist doch das Besondere an unserer Demokratie - damit unsere Kinder und nachfolgende Generationen dieselben Chancen haben, wie wir heute, glücklich zu leben. Beherzigen wir die Zeile aus dem Deutschlandlied: "Einigkeit und Recht und Freiheit sind des Glückes Unterpfand." und nehmen wir dies als unseren Auftrag für die Zukunft an.
Dieses Glück, meine Damen und Herren, wünsche ich Ihnen von Herzen und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.